Die Schriftstellerin Viivi Luik und der Linguist Petar Kehayov über die Selbst- und Fremdbilder der Esten

David und Goliath Haus in Regensburg, in der Stadt, in der Petar Kehayov seit 2011 lebt und arbeitet. Foto: Aija Sakova

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Anfang Februar 2018, kurz danach als Bulgarien die EU-Ratspräsidentschaft von Estland übernahm, veröffentlichte Petar Kehayov einen Artikel „Gutes Estland, wüstes Bulgarien: Das verzerrte Bild zweier EU-Länder“[1]. Petar Kehayov ist ein Finnougrist bulgarischer Herkunft, der sowohl estnische als auch deutsche Verhältnisse gut kennt, denn er lebt seit 2011 in Deutschland und in den Jahren 1994–2010 lebte und arbeitete et überwiegend in Estland. Sein Meinungsartikel reflektiert über die Selbst- und Fremdbilder von Estland und Bulgarien in den westlichen Medien. Er untersucht, wie und warum aus Estland das digitale Wunderland, wo im Prinzip alles möglich ist, geworden ist und wieso Bulgarien fast ausschließlich als etwas Mordor-artiges, ein von Korruption durchtrunkenes Land dargestellt wird.

Auch wenn Kehayovs Ausgangspunkt persönlich motiviert ist – die Erkenntnis, dass die in den deutschsprachigen Medien vermittelten Bilder nicht ganz der Wirklichkeit entsprechen bzw dass Estland und Bulgarien gar nicht solche gegensätzliche Polen darstellen, wie man anhand von Medien sich denken könnte –, berührt der Artikel meines Erachtens ganz wichtige Fragen, die in Estland nicht gerne thematisiert werden. So lässt sein Artikel danach fragen, was passiert eigentlich hinter des schönen, für Marketingszwecke gebauten Bildes von Estland als das digitale Wunderland bzw was wird nicht erzählt und worüber wird lieber geschwiegen.

Kehayov geht in seinem Meinungsartikel der Staatstreue und dem Staatsverdacht nach, die in den beiden Ländern sehr unterschiedlich sind und unterschiedlich verstanden werden. Er erzählt wie in Estland die Staatstreue ein Modus Vivendi nicht nur der politischen, sondern weitgehend auch der intellektuellen Elite ist, während der Intellektuelle in Bulgarien sich eher vom Staat und dessen Apparat abgrenzt.

„Dieser Unterschied lässt sich historisch und kulturell erklären. Im Falle Bulgariens spielen die Staatsferne der Bevölkerung Südosteuropas im Osmanischen Reich und die autoritäre Regierung der eigenen Kommunisten nach 1944 eine Rolle. Im Falle Estlands bieten der protestantische Hintergrund und das Vorbild Skandinaviens eine Erklärung. Dass die estnische Elite das Image des Staates so kümmert, lässt sich auch durch in der Sowjetunion erworbene potemkinsche Einstellungen erklären.“ Kehayov zufolge steht das Maß an Staatstreue in Verbindung mit einer Reihe von Mythen und Narrativen, die in Estland und Bulgarien sowohl nach innen als nach außen Imaginationen erzeugen. „Im estnischen Fall handelt es sich konsequent um Erfolgs- und Opfernarrative; im bulgarischen – besonders in der neueren Geschichte des Landes – um Scheitern und Frustration.“

Als Este mag man nicht mit allem, was Kehayov behauptet, einverstanden zu sein, aber es lohnt sich zweifelsohne, seinen Außenseiter- bzw Zuschauerblick ernst zu nehmen. Vor allem deswegen, weil es sich um einen Estland und die Esten liebenden Beisteherblick handelt. Zudem glaube ich an die Wichtigkeit und Produktivität eines Außenblicks. Petar Kehayov kennt zweifelsohne estnische Verhältnisse sehr gut, gleichzeitig ist er kein Este und wohnt zurzeit gemeinsam mit seiner estnischen Frau von Estland entfernt.

Kehayov spricht also über das estnische (nach Außen gerichtete) Schweigegelübde, das mit zwei großen Ängsten verbunden ist: mit der Angst vor dem Aussterben der Esten und der estnischen Sprache sowie mit der Angst vor dem östlichen Nachbar. In Estland rechtfertigt der eigene Staat viel mehr, als man es sich in Deutschland vorstellen kann. „Er funktioniert als Damm gegen innere Widersprüche: Missstände werden in der Regel nicht dem Staat angelastet, weil die hart erkämpfte Eigenstaatlichkeit heilig ist,“ schreibt Kehayov. Dabei haben die Begriffe „oma riik“ („eigener Staat“) und „omariiklus“ („Eigenstaatlichkeit“) kein inhaltliches Äquivalent im Deutschen.

Russland ist für Estland und für die Esten der Feind Nr. 1 und alle innerstaatlichen Widersprüche, „die möglicherweise eine negative Wirkung auf die Position Estlands im Umgang mit Russland haben können – oder, in diesem Zusammenhang auch mit den NATO- und EU-Verbündeten – werden schon im Ansatz erstickt“. Als Beispiel bringt Kehayov z.B. die Aussagen der Politikerin Oudekki Loone, die sich von estnischen Opfernarrativen abzuwenden versuchte und im Mai 2017 im Fernsehen behauptete, man könne ihrer Meinung nach in Estland durchaus auch den Sieg der Rote Armee gegen das Dritte Reich feiern. Diskussionen, die z.B. in Deutschland völlig normal wären, sind in Estland oft in dieser Form nicht möglich. So ähnlich wie es für einen Esten unverständlich und unfassbar bleibt, wieso kann man in den europäischen Großstädten wie z.B. in Wien oder Berlin Denkmäler für Sowjetische Soldaten haben, wenn man doch weiß, was diese Armee und dieses Land großen Teilen der Bevölkerung im Osten Europas angetan hat. 

Diese Diskrepanz verweist auf die Unterschiedlichkeit der Erinnerungskulturen in Ost- und West-Europa. Ohne in die Analysen der verschiedenen Erinnerungskulturen hineinzutauchen, möchte ich zur Kehayovs Analyse der westlichen Medienbilder von Estland und Bulgarien zurückkehren und mit ihm zusammen behaupten, dass die Medien tatsächlich aufmerksamer sein und das wahre Bild von einem Marketingimage unterscheiden sollten. Denn neben des Wunderlandes und des Mordors gibt es ja auch ganz andere alternative Geschichten, die sich erzählen ließen, wie z.B. die Tatsache, dass die Gesundheit der Bulgaren laut Eurostat Statistik besser sei. Möglicherweise hat diese Tatsache mit einem besseren Klima zu tun, aber vielleicht eben auch nicht nur. Es könnte z.B. auch mit dem inneren Klima der Menschen zu tun haben, also damit, dass in Bulgarien die Konflikte mehr zugelassen und durchdiskutiert werden.

Für mich war Petar Kehayovs Artikel ein Anlass dafür, um darüber nachzudenken, ob und wie das positive Bild Estland uns selber dabei hindert über die Ungereimtheiten und Konflikten in unserer Gesellschaft und vor allem in uns selbst zu reden und zu denken. Wie und wann können wir eigentlich darüber reden, wovor wir Angst haben und wofür wir uns schämen?

Die Frage der Scham und des Sich-Schämens ist einer der zentralen Fragen im Roman „Schattenspiel“ der estnischen Schriftstellerin Viivi Luik, der Ende des Sommers 2018 in der Übersetzung von Cornelius Hasselblatt auf Deutsch im Wallstein Verlag erschienen ist.[2]  In der Mitte des Romans, Ende des Kapitels „Die Hyre Babylon“ gibt es eine Stelle, in der ein deutscher Kritiker der Erzählerin sagt: „Schreiben Sie auf jeden Fall darüber, wofür Sie sich am meisten schämen. Sagen Sie nicht, dass Sie sich keiner Sache schämen.“[3]


Viivi Luik im Literaturhaus Berlin, 2018. 

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Viivi Luik, die insgesamt 17 Jahre außerhalb von Estland gelebt hat – in Helsinki, Berlin, Rom, Riga, Stockholm und New York – versucht in ihrem Werk unter anderem den Unterschieden der nördlichen und südlichen Mentalitäten nachzugehen. Zu Beginn des Romans „Schattenspiel“, der eine Art Reise nach Rom mit Zwischenstationen in Helsinki und Berlin darstellt, ist die Rede über die Unterschiede zwischen den Römern und Esten:

„Für einen Römer sind bis heute alle Länder, die oberhalb der Grenzen des römischen Imperiums liegen, Länder der Barbaren, undeutliche Orte und Plätze, von denen man nichts weiter weiß, als dass es dort schneit, dass man Fett und Speck isst, nicht beten kann, keine Haare schneiden oder Anzüge nähen kann, unsachgemäß lebt. Dort kann man kein Essen zubereiten und weiß Schönheit nicht zu schätzen. Dort lernt man keine Spielfreude und weiß keine feine Intrige zu spinnen.

Es hat den Anschein, als würden die Menschen alles, was an Lichtscheuem in der Geschichte ihres Heimatlandes passiert ist, von Generation zu Generation weitertragen wie eine ansteckende Krankheit. Wenn bei einem Esten von Generation zu Generation die Angst weiterlebt, man könne für schuldig befunden, festgenommen und deportiert werden, so hat in römischen Gefilden zu allen Zeiten die Angst vorgeherrscht, seine Macht und sein Vermögen zu verlieren, und dass ein schreckliches Geheimnis ans Licht kommt. Dort ist leichtfertig und ohne viel Aufhebens Blut vergossen worden und wird bis heute noch.“[4]

Es scheint, dass das Sich-Schämen, insbesondere wenn man es von weitem betrachtend fühlt, mit der Angst verbunden ist. Mit der Angst, die man durch Erniedrigungen erlebt hat, und ebenso mit der Angst, dass diese Erniedrigungen sich wiederholen könnten.

In dem gleichen ersten Kapitel des Romans schildert die Erzählerin ein Erinnerungsbild bzw eine Szene vom August 1991, als sie mit einem Messer in der Hand, in der Tasche – an dem Messer wie an der Hand eines Freundes haltend – zu einer Volksversammlung auf dem Freiheitsplatz In Tallinn geht, um mit ihrem Volk zu sein und für die Freiheit und Selbstständigkeit zu stehen. Dieses Gefühl mit dem nackten Taschenmesser ins Krieg zu gehen bzw die Bereitschaft sich bei Not gegenüber dem Sowjet-Soldaten zu wehren, die Bereitschaft einem anderen Menschen das Messer ins Auge zu stechen, dieses Gefühl bleibt. Dieses Gefühl bzw die Erinnerung an dieses Gefühl kann man nie loswerden.

Der Roman von Viivi Luik ist, so ähnlich wie die Aufforderung des Kritikers eine Auseinandersetzung mit der Scham (der Erniedrigung). Es ist ein Versuch die Erniedrigung und die Gewalt zu thematisieren sowie das, was diese mit dem Menschen machen. Auch über die damit verbundene Angst und Scham soll man reden und ihr ins Auge schauen lernen. Sich mit ihnen konfrontieren. Denn wenn man als Este geboren worden wird, ist man gleichzeitig auch unvermeidlich mit dem Land und mit der Sprache verbunden. In einem Gespräch, den wir im Frühjahr 2018 führten, sagt Viivi Luik:

„Wenn ein Kind seine ersten estnischen Wörter ausspricht, ist es für den estnischen Sprachraum bestimmt. Dann klebt es mit der Zunge an der Axt und muss die Verantwortung dafür übernehmen, die das mit sich bringt. Diese Verantwortung ist angeboren.“[5]

So kann man mit Viivi Luik behaupten, dass die Tatsache als Este geboren zu sein und die damit verbunden Scham- und Angstgefühle mit sich zu tragen, gleichzeitig unumgänglich, dh eine Verantwortung ist, aber auch eine Möglichkeit darstellt. In dem Moment, wenn wir die als eigene akzeptieren und annehmen, können sie eigentlich uns nicht mehr Angst einjagen, sondern, man kann sogar auf die bauen bzw die miteinbeziehen.

Im Jahre 2005 hatte Viivi Luik ein Essay „Eine Rede auf dem Grab der Schulgebäude“ publiziert, in dem sie behauptet, dass erst nach so vielen Jahren nach der Sowjetokkupation richtig zu sehen ist, was diese 50 Jahre Okkupation mit dem Land getan und ihr angetan haben. Gleichzeitig ist aber nach Viivi Luik auch wahr, dass jedes Jahr neues Grass wächst, jedes Jahr wieder neue Blumen blühen.

Im dem Essay stellt sie die Frage auf, ob es nicht vielleicht in der Welt bereits zu viel gepflegtes Land gibt, ob es vielleicht ein Glück ist, wenn ein Land Unkraut und wildes Gebüsch nach seinem eigenen Willen wachsen lassen kann. Vielleicht fehlt es in der Welt nicht an gepflegtem, sondern gerade an ungepflegtem, wilden Land, schreibt sie.[6]

So lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das alte bekannte Paradox – keine Rose blüht richtig gut ohne Gülle. Also, auf einem Verfall kann man bauen, ohne Vorgaben. Ebenso kann man auf die Erniedrigung und auf die Angst bauen, wenn man diese ernst nicht, sich mit ihnen konfrontiert und in die nationalen Narrative und Selbstbilder miteinbezieht.

Ebenso überzeugt Viivi Luik ihre Leser, dass es sich immer lohnt, den Außenseiterblick ernst zu nehmen und auszuhören:

„Wenn ich in Estland bin, schluckt mich Estland. Wenn ich in Italien bin, dann schluckt mich Italien. Im Sommer verschluckt mich der Sommer, im Winter der Winter. Und ich glaube selbst nie, dass ich verschluckt worden bin. Im Winter denke ich immer, dass ich weiß, wie der Frühling aussieht. Aber als der Frühling tatsächlich da ist, dann sehe ich, dass ich mich an nichts mehr erinnert habe. Sogar daran, wie die Sonne sich richtig angefühlt hatte. Deswegen ist die Welt wie Wahrheit und Lüge auf einmal. Das erstaunlichste dabei ist, dass es scheint, als ob die Lüge gar nicht existieren würde. Wer auf einmal überall sein könnte, würde sich ja vergewissern können, dass es keine Lüge gibt! Die Lüge entsteht durch die eigene Begrenztheit, so wie die Streitereien immer dadurch entstehen, dass die beiden Seiten ihr eigenes Recht durchsetzen wollen und sich nicht damit abfinden können, dass beide recht haben können. Ich habe Recht in Rom, dass es Frühling ist, und Du hast Recht in Tallinn, dass es kalt und eisig ist.

Wenn Du z.B. in Estland bist, dann fängst du an zusammen mit den anderen zu glauben, dass alle Menschen in allen Ländern Eurovision sich anschauen. Wenn du aber in Italien oder in Deutschland oder in Finnland bist, dass denkst du, wer um Gottes Willens sich das anschaut. Italien mit seinen 60 Millionen Einwohner hat nicht mal Eurovision in den letzten Jahren übertragen lassen. Dabei haben Recht sowohl diejenigen, die Eurovision schauen sowie diejenigen, die davon noch nie etwas gehört haben.

In der Welt gibt es so viele Menschen, dass niemals alle sich das gleiche anschauen könnten, geschweige dann davon, dass alle das gleiche wollen könnten.“[7]



[1] Petar Kehayov „Gutes Estland, wüstes Bulgarien: Das verzerrte Bild zweier EU-Länder“. ÜberMedien, 7.02.2018.  

[2] Viivi Luiks „Schattenspiel“ auf der Seite der Wallstein Verlags.

[3] Viivi Luik „Schattenspiel“. Göttingn: Wallstein Verlag, 2018. S. 146.

[4] Viivi Luik „Schattenspiel“, S. 28–29.

[5] Viivi Luik, Aija Sakova: „Teilhaben an der Welt“. Blog auf AijaSakova.com, 2.10.2018.

[6] Viivi Luik „Pildi ilu rikkumise paratamatus“ . Tallinn: EKSA, 2017. S. 222.

[7] Viivi Luik „Pildi ilu rikkumise paratamatus“. Tallinn: EKSA, 2018. S. 260–261.