Anfang Oktober gab es in Berlin mehrere Begegnungen der estnischen und deutschen Literatur. Am 8. Oktober fand nämlich im Literaturhaus Berlin ein literarischer Abend statt, an dem der Roman „Schattenspiel“ (Wallstein Verlag, 2018) der estnischen Autorin Viivi Luik vorgestellt wurde. Am Tag danach war die Rede über diesen, ursprünglich im Jahre 2010 auf Estnisch erschienen Roman in der Botschaft der Republik Estland.
Der Artikel in ursprünglich in der estnischen Tageszeitung Postimees in der Wochenendbeilage AK am 27.10.2018 erschienen.

Viivi Luik und Aija Sakova im Gespräch im Literaturhaus Berlin, 8.10.2018

„Aus dem Wollknäuel des Lebens kam für mich auf dem Alexanderplatz plötzlich das Buch der türkischen Frau zum Vorschein, und mitten in diesem Buch stand seine Hauptperson, ein Kind so armer Eltern, dass sich in Berlin oder in Tallinn niemand diese Armut auch nur vorstellen konnte.

Das Leben des Kindes war bunt, denn fortwährend wurde auf der Suche nach Arbeit von einem Ort zum anderen umgezogen. Das Kind hatte eine schwere, beinahe über seine Kräfte gehende Pflicht, die es selbst auf sich genommen hatte und von der keine lebende Seele etwas wusste.

Das Kind betete. Gott hatte ihm aufgetragen, für alle Toten zu beten, die es kannte. Aber in den Zeitungen schrieb man immer von neuen Toten. Fortwährend ereigneten sich irgendwo Katastrophen. Viele Menschen starben in Kriegen. Ununterbrochen starben Menschen und Tiere. Das Kind betet wohl, soviel es konnte, aber trotzdem gab es so viele Tote, dass für sie zu beten beinahe die ganze Zeit kostete, die dem Kind von der Schule übrig blieb.

Es kamen immer mehr Tote hinzu. Das Kind konnte gar nichts anderes mehr tun, als für all diese Toten betend vor Allah zu stehen, mit nah oben geöffneten Handflächen, und darauf zu warten, dass sich aus dem Himmel zwei lebendige Feuerflammen auf sie herniederließen. Allahs lebendiges Feuer senkte sich unsichtbar auf die Handflächen. Es senkte sich auf die Handflächen, aber es versengte das Herz. Die Menschen starben einfach weiter, ohne sich zu fragen, wie lange dieses Kind schon dort stand und ob seine Füße es noch tragen konnten.“ (Schattenspiel, S. 213–214).

„Im Buch war darüber geschrieben worden, wessen sich die Autorin am meisten schämte, und das ging uns zu Herzen. Selbst noch durch die Nacherzählung von Herrn Atspol ging mir diese Scham des türkischen Kindes zu Herzen und war damit auch meine Scham.“ (Schattenspiel, S. 215)


Viivi Luik und Emine Sevgi Özdamar im Literaturhaus Berlin, 8.10.2018

Das Buch, worüber im Schattenspiel die Rede ist, heißt „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“ (1992). Es ist der erste Roman der deutschtürkischen Schriftstellerin und Theaterregisseurin Emine Sevgi Özdamar. 26 Jahre nach dem Erscheinen des Romans von Özdamar und 8 Jahre nach der estnischen Publikation von „Schattenspiel“ treffen sich Emine Sevgi Özdamar und Viivi Luik zum ersten Mal im Literaturhaus in Berlin am 8. Oktober 2018.

Zwei große Schriftstellerinnen aus dem gleichen Jahrgang 1946 erkennen einander, über Jahre und über Zeiten. Viivi Luik erzählt, wie sie den Roman Özdamars zum ersten Mal auf Finnisch gelesen hatte, weil die finnische Übersetzerin Raija Jänicke ihre Freundin ist und das Buch ihr empfohlen hatte. Emine Sevgi Özdamar wiederum verspricht, dass sie sich dann, wenn sie ihr nächstes Buch zu Ende bringt, im Frühjahr 2020 auf dem Weg nach Estland macht. Mit dem Auto, weil sie Angst vor dem Fliegen hat. Wichtige Reisen nehmen eben Zeit.  

„Ich war auf dem Weg nach Rom, und das war kein Scherz.“ (Schattenspiel, S. 19)

 

Aija Sakova, Emine Sevgi Özdamar und Viivi Luik im Literaturhaus Berlin, 8.10.2018

„Und doch wartet in Tallinn der August 1991 auf mich, um den man bei diesem langen Weg nach Rom nicht herumkommt. Über diesen August des Jahres einundneunzig ist in Estland viel gesprochen und geschrieben worden. Darüber gibt es so viele Gedanken und Meinungen, wie es Menschen gibt, die damals in Estland wohnten. Die Meinungen und Gedanken decken sich jedoch nicht. Manche merkten gar nicht, dass etwas passierte. Andere waren verzweifelt. Das ist deren Angelegenheit. Ich spreche davon, was ich durchmachte.

Ich war an diesen beiden Augusttagen alleine zu Hause. Zwei lange, zähe, gespenstische Tage in jener Zweizimmerwohnung eines Plattenbaus mit seinem schmutzigen und vollgepinkelten Fahrstuhl, in der ich glücklich gewesen war. Ich wusste damals nicht, dass das Leben immer ein Drahtseilakt war, ein Gang auf des Messers Schneide, und dass morgen schon vorbei sein konnte, was heute noch galt. Ich wusste noch nicht, dass die kleinen Alltäglichkeiten des Lebens, die man für so lästig hält und die man mit dem anderen teilt, dass gerade sie das Glück waren.“ (Schattenspiel, S. 14)

„Am Abend dieses 20. August fand auf dem Freiheitsplatz (der damals Siegesplatz hieß) eine Versammlung statt, von der es hieß, dass die Gegner sie untersagt hätten. (…) In meiner Tasche hatte ich eine Waffe, ein Schweizer Taschenmesser, das unser Freund Heinz Stalder zum Zeichen der Freundschaft JJ vermacht hatte. (…) Dies Messer machte mir Mut, ich hielt es fest wie eine menschliche Hand.“ (Schattenspiel, S.17, 18)

Viivi Luik und Herta Müller in der Botschaft der Republik Estand, 9.10.2018

Die Reise nach Rom geht weiter. Und sie bringt uns wiederholt nach Berlin. Am 9. Oktober 2018, als in der estnischen Botschaft in Berlin ein literarischer Abend «Die Alpen – Trennlinie zwischen zwei Europas» stattfand und Eve Pormeister, Aija Sakova, Cornelius Hasselblatt und Therese Hörnigk über Viivi Luiks „Schattenspiel“ redeten, hatte sie auch Heinz Stalder aus der Schweiz nach Berlin gebracht, um erneut diese Hand mit den Spuren des Schweizer Taschenmessers in der seinen zu spüren. Auch Herta Müller hatte sie an dem Abend nach Berlin, in die Botschaft zur Lesung gebracht. Ihre feste Umarmung mit Viivi Luik bestätigte die Freude der Wiederbegegnung und wirkte wie ein Händedruck aus der gemeinsamen Vergangenheit.

Aber es gab noch andere Begegnungen. Über einige werden wir vielleicht erst später bewusst. Einige Reisen fingen vielleicht erst an, in diesen sommerlichen Herbstabenden in Berlin.


Fotos: Elvira Akzigitova, Aija Sakova