Im Jahre 2010 sind in Berlin und Tallinn zwei Romane von zwei großen Autorinnen erschienen, die beide eine Art poetische Untersuchung der Schatten der Vergangenheit bzw. der Verknüpfungen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit unternehmen.

Die erzählte Gegenwart von Christa Wolfs „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“* liegt in den Jahren 1992 bis 1993 in Los Angeles. Viivi Luiks „Schattenspiel“* (Varjuteater) erzählt ebenso über die neunziger Jahre, aber in Tallinn, Helsinki, Berlin und Rom. Christa Wolfs einjähriger Aufenthalt zwischen 1992 und 1993 in Los Angeles, im Getty Center, kann sehr wohl eine Art von Flucht vor den Ereignissen in Deutschland betrachtet werden, wo sie als Person durch die Veröffentlichung und das Bekanntwerden ihrer IM-Akte aus den Jahren 1959–1961 (Inoffizielle Mitarbeiterin von Stasi) öffentlich angegriffen wird und über ihre Rolle in der Literaturgeschichte diskutiert wird.

Viivi Luik greift zurück auf das Jahr 1991, als in Estland parallel zu Lettland und Litauen die staatliche Selbstständigkeit wiederhergestellt wurde und Estland im Folge von Glasnost von UdSSR abgelöst wird. Bald danach wird die Autorin Viivi Luik mit ihrem Ehemann, mit dem Schriftsteller Jaak Jõerüüt, der 1993 zum Botschafter Estlands in Finnland berufen wird, ins Ausland umziehen. Für Luik beginnt die insgesamt fast 18-jährige Zeit im Ausland: 1993 bis 1997 in Helsinki, davon ein Jahr (1996) als DAAD-Stipendiat in Berlin, 1998–2002 in Rom, (später ein halbes Jahr in New York, 2006–2011 Riga, Lettland und 2011–2014 in Stockholm, Schweden). Der Roman „Schattenspiel“ greift zurück auf Episoden aus der Zeit in Berlin, Helsinki und Rom.

Neben der 1990er Jahre machen beide Autorinnen aber auch eine Art Zeitsprung in die noch frühere Vergangenheit und verbinden die 1940er und 1950er (Viivi Luik) und 1950er (Christa Wolf) Jahre mit der erzählten Gegenwart.

Die Ich-Erzählerin von „Schattenspiel“ behauptet auf dem Weg nach Rom zu sein und dieser Weg (Pilgerfahrt) habe bereits im Jahre 1949 im Sowjet-Estland seinen Anfang genommen, als die Erzählerin als kleines Mädchen auf dem Lande, in der Zeit als die große zweite Massendeportation von Menschen nach Sibirien, in die Gulags stattfand (März 1949) in einem verlassenen Haus, von dem die Besitzer soeben deportiert worden waren, ein Buch mit Kolosseum-Bild vorfand. In Rom kam sie, im Unterschied zu Carl Gustav Jung, aus dessen Buch „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ ein längeres Zitat ihrem Roman vorangestellt ist, tatsächlich erst im Jahre 1998 an.

„Im Jahre 1949, als Carl Gustav Jung in die Ewige Stadt reisen wollte, beim Kauf der Fahrkarte ohnmächtig wurde und die Reisepläne ein für alle Mal begrub, begann eine andere Romreise.“ (Schattenspiel, 9)

Während die Erzählerin von Schattenspiel in die Ewige Stadt (nach Rom) reist, kommt die Erzählerin von Christa Wolfs Roman in der Stadt der Engel (in Los Angeles) an. Aber sie macht es mit einem Pass des nicht-mehr-existierenden Staates, also sie reist im Jahre 1992 mit dem DDR-Pass in die USA.

„AUS ALLEN HIMMELN STÜRZEN das war der Satz, der mir einfiel, als ich in L.A. landete und die Passagiere des Jet dem Piloten mit Beifall dankten, der die Maschine über den Ozean geflogen, von See her die Neue Welt angesteuert, lange über den Lichtern der Riesenstadt gekreist hatte und nun sanft aufgesetzt war.“ (SdE, 9)

Während die Autorin die Antwort auf die Frage, wie sie, deren Thema das Erinnern seit Jahrzehnten ist, das, also das Treffen mit den Männern der Staatssicherheit im Jahre 1959 (SdE, 201f.), hätte vergessen können, sucht und hofft sie Schutz im fremden Land, in der englischen Sprache, Poesie, Philosophie sowie in der Psychoanalyse. Das gewählte Exil von Christa Wolf dauert etwa ein Jahr und ist aus einer Art existenzieller Not veranlasst:

„Wieder einmal stand ich vor der Wahl zwischen zwei Unmöglichkeiten und wählte die, die mich im Augenblick scheinbar weniger verletzte. […] The overcoat of Dr. Freud, fiel mir ein. Ich wünschte, er könnte mich schützen.“ (SdE, 203)

Das gewählte Exil von Viivi Luik ist deutlich länger und unterschiedlicher Natur, es gibt keinen konkreten Anlass zur Flucht, doch die im okkupierten Land gelebte Zeit ist Grund genug, um zu fliehen. Ihr Weg-Sein von ihrem Herkunftsland, der ehemaligen Sowjetunion ist eine gewählte Möglichkeit, ein Zeichen der Freiheit. Doch die Frage der Selbstanalyse, das sog Lüften der Dunkelkammern des Unterbewusstseins ist aktuell auch in ihrem Roman. Mitten im Roman heißt es:

„Mit einem Mal sprach der einflussreiche Kritiker trocken, völlig ohne Ironie und eindringlich die folgenden Worte: „Schreiben Sie auf jeden Fall darüber, wofür Sie sich am meisten schämen. Sagen Sie nicht, dass Sie sich keiner Sache schämen. Lügen Sie nicht.““ (Schattenspiel, 146)

Das, wofür man sich aber am meisten schämt, ist im „Schattenspiel“ nicht so eindeutig. Vor allem scheinen es aber die eigene Vergangenheit, die Herkunft und die Erfahrungen der Erniedrigung zu sein, die nicht abzuwischen sind und die der Mensch unvermeidlich mit sich trägt.

„Die Tage im August 1991 waren milde und fühlten sich auf der Haut an wie Samtvorhänge. Was die Vorhänge verbargen, wusste man nicht. Es gab Bewegung hinter ihnen, aber die konnte man nicht sehen. […]
Am Nordostzipfel der Ostsee glich dieser Sommer des Jahres 1991 einem Wundverband, der von dunkler Angst, unvergossenem Blut und quälender Erwartung durchtränkt war. Als die Panzer endlich eintrafen, nahte gemeinsam mit ihrem unheilvollen Donnern auch die Lösung. In diesen beiden Umsturztagen teilte der estnische Rundfunk Verhaltensmaßregeln an das Volk aus, was zu tun sei, wenn der Oberste Sowjet und die Regierung ausgeschaltet und die notwendigen Personen liquidiert worden wären und im Radio der Feind das Wort führen würde. […]

Im Fernsehen sah ich, wie am helllichten Tag eine Panzerkolonne durch Tallinn rollte. Solche Bilder hatte ich schon zur Genüge gesehen! Das waren Tallinn 1940 und Prag 1968.“ (Schattenspiel, 16–17) 

Es wird also in beiden Romanen eine Art Zeitachse hergestellt und die Verbundenheit der Gegenwart mit der Vergangenheit wird somit ersichtlich gemacht, im positiven sowie negativen Sinne, als etwas Unvermeidliches. Die poetische Sprache dient bei der Untersuchung dieser Verbundenheit als Hilfsmittel, gleichzeitig besitzt sie aber auch eine heilende Kraft.

„Dass der Gedankenstrahl die Zeitschichten rückblickend und vorausblickend durchdringen kann, erscheint mir als ein Wunder, und das Erzählen hat an diesem Wunder teil, weil wir anders, ohne die wohltätige Gabe des Erzählens, nicht überlebt hätten und nicht überleben könnten.“ (SdE, 13)

Der Erzählerin von „Stadt der Engel“ bleibt bekanntlich nichts Anderes übrig, als wieder in den, bereits von Kindheitsmuster bekannten Zeitschacht hinunterzusteigen. „Ich steig noch mal runter in diesen Schacht.“ (SdE, 205) Nur diesmal geschieht es nicht mehr als unerwartetes Fallen, sondern man nimmt das Steigen in den Schacht ganz bewusst vor. Weil der Vorsatz ist: „Der Spur der Schmerzen nachgehen.“ (SdE, 14)

Wie gefährlich und Angst einjagend aber dieses Steigen in den Zeitschacht trotzdem sein kann, verdeutlicht ein Traum der Erzählerin:

„Ein rasender Fall durch Schichten von immer dichter werdender Konsistenz, zuerst Luft, dann Wasser, Morast, Schutt, Geröll, ich drohte steckenzubleiben, drohte zu ersticken. Plötzlich unter mir Gestein, auf dem ich Halt fand, und die Stimme: Du stehst auf festem Grund.“ (SdE, 320)

Hier wird eine starke existenzielle Erfahrung mithilfe der Sprache festgehalten, ausgedrückt.



Was bedeutet es aber eigentlich, Erfahrungen poetisch zu verarbeiten, sie poetisch zu verdichten, oder etwas „dicht machen“. „Was denn dicht machen und wogegen?“ Und wie hilft die Sprache?

In dem schönen, poetischen Essay „Lesen und Schreiben“*** aus dem Jahre 1968 schreibt Christa Wolf über die Tiefe beim Schreiben, darüber, dass die Tiefe des Textes durch den Schreibenden entstehen kann, durch die Fähigkeit des Schreibenden also, sich für die Verbundenheit der unterschiedlichen Zeiten und Erfahrungen aus unterschiedlichen Zeiten zu öffnen bzw offen zu halten.

Zu Beginn dieses Essays erzählt sie über ihre Wolga Reise und über eine besondere Erfahrung, über das Gefühl, wenn äußerlich alles gleich bleibt, doch innerlich das Gefühl entsteht, dass man „alles anders sehe“ (LuS, 11)

„Ein Satz, den wir oft gebrauchen, ohne ihm „auf den Grund“ zu gehen. Dahin zu gelangen, müsste man den Mut haben, die Augen zu schließen, sich loszulassen: Da sind sie also immer noch, die Wolgaufer, fahren langsam und beharrlich vorbei, da schüttert die Schiffsmaschine leise unter den Füssen, ich bin auf dem Dampfer, noch nicht angekommen in der fremden Stadt, weiß aber schon, wie es sein wird: ankommen, dieser Blick von einem Hotelbalkon, die Liebespaare …
Weiß, wie es gewesen sein wird: abgefahren, vieles vergessen, nur diesen Augenblick gewiss nicht, an dem ich mich, zurück- und vorausfühlend, meiner späteren Erinnerung versichere, einen leichten Schwindel in Kauf nehme, den man kennt: Schwerelosigkeit die freie Bewegung in Raum und Zeit – und, mich abstoßend, weitersinke in das, was wir behelfsmäßig „Vergangenheit“ nennen. So gelange ich denn zu ähnlichen Augenblicken, entdecke ein Erlebnismuster, finde vielleicht seinen Ursprung, vergleiche es mit anderen mir bekannten Mustern und kann womöglich etwas über mich erfahren, was ich noch nicht weiß.
Bin auf dem Grund des Satzes.“ (LuS, 11)

Hier ist die Rede über die freie Bewegung in Raum und Zeit, die Erkenntnisse und neue Einsichten ermöglicht, Verbindungen zwischen der Gegenwart und Vergangenheit, und so wie es aussieht auch der Gegenwart ermöglicht. Im Essay „Lesen und Schreiben“ ist diese geheime Absprache bzw Verbundenheit der unterschiedlichen Zeiten innerhalb eines Menschen durch einen positiven, atemberaubenden Augenblick und damit verbundenem Gefühl ausgedrückt. Doch ähnlich funktioniert es beim Fallen oder Steigen in den Zeitschacht, was ja die Schreib- und Arbeitsmethode von Christa Wolf ist. Nur bei der Verbundenheit von negativen Erfahrungen, vielleicht auch Traumata, braucht man viel mehr Mut und Energie um loszulassen, sich frei in der Zeit zu bewegen.  

Viivi Luik scheibt im „Schattenspiel“ ebenso über die Verbundenheit der Zeiten sowie Räumen über Zeit.

„Auch an jenem öden Novemberabend Ende der fünfziger Jahre war ich auf dem Weg nach Rom, als sich die Dämmerung wie graue Asche auf die leeren Felder, die verwilderten Äcker und die leer stehenden Bauernhöfe senkte, als der kalte gelbe Streifen des Sonnenuntergangs hinter den kahlen Bäumen traurig und einsam flackerte wie die Erinnerung eines Flüchtlings an seine verlorene Heimat, in die er niemals zurückkehren wird, weil, wie Karl Ristikivi [ein bedeutender estnischer Exil-Schriftsteller nach dem II Weltkrieg – A.S.] es in einem Gedicht ausdrückte, „Wasser davor ist, Wasser und schaurige Felsen.“

Auch in der Traurigkeit dieser verlorenen und fernen Abendstunde war ich auf dem Weg nach Rom. Warum sonst nahm ich mir ein kariertes Heft und meinen Schulfüllfederhalter aus der Schublade und fing an, Jahreszahlen in das Heft zu schreiben?“ (Schattenspiel, 11–12)

Sie schreibt Jahreszahlen bis zum Jahr 2000, der in den fünfziger Jahren genauso wie heute das Jahr 3000 in einer unermesslichen Zukunft lag. Dieser Akt lässt das Kind damals ohne die passenden Worte, die die Autorin erst in der Erzählgegenwart durch ihr Schreiben ihm zuweisen kann, erkennen:

„Ich dachte in jener öden Dämmerstunde zum ersten Mal in meinem Leben an die Menschen, die den Gang meines Lebens bestimmen, und an die Orte, an denen mein Herz aus Liebe und Schmerz einmal verstummen würde. Einige Menschen lebten bereits, andere waren noch nicht geboren.“ (Schattenspiel, 12)

Eine Erfahrung aus der Vergangenheit – authentisch oder nicht – wird somit mit Hilfe der Sprache und ihrer poetischen Macht eröffnet und es wird möglich aus der Vergangenheit in die Zukunft zu blicken. Dies erzeugt ein Gefühl des Mystischen, einer Zusammengehörigkeit.

Interessant ist aber auch zu bemerken, dass nicht nur die eigenen vergangenen Erfahrungen mit der erzählten Vergangenheit verbunden werden, sondern auch die literarischen Erfahrungen, Texte anderer Autoren sind unmittelbar mit der eigenen Erfahrung verbunden. Neben Karl Ristikivi, kommen im Viivi Luik’s Roman viele andere Autoren vor: viele estnische bekannte Dichter Artur Alliksaar (ee: 51), Jaak Jõerüüt (ee: 200), Joel Sang (ee: 298), Juhan Liiv (ee: 278), aber auch Reiner Maria Rilke (ee: 270). Die Autorin zitiert Rilke, als sie darüber schreibt, dass es keinen Unterscheid macht, ob man über eine Erfahrung gelesen hat oder es selbst erlebt hat, Hauptsache man erkennt sich darin:

„Es gibt ein Gedicht von Rilke, in dem ich mich selbst am Fenster stehen sehe, in Tallinn oder Berlin, in Rom auf jeden Fall, auf dem Weg zum Leuchtturm, und es macht keinen Unterschied mehr, ob ich auf dem Hinweg oder auf dem Rückweg bin.

… Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.
“ (Schattenspiel, 237)


So ähnlich, mit Erfahrungen und Weissheiten vieler anderen Autoren gewappnet, begegnet die Erzählerin von „Stadt der Engel“ ihrer Ängste und den Tiefen des Zeitschachts. Eine ganz besondere Rolle kommt dem Gedicht „An sich“ von Paul Fleming zu, der bereits im Roman „Kindheitsmuster“ zur Hilfe gezogen worden war (KM, 556). (vgl. Sakova 2016: 106) Mindestens an fünf unterschiedlichen Stellen weren Zeilen aus Flemings Gedicht zitiert und auch besprochen. Insbesondere die Zeilen „Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren“ und „Nimm dein Verhängnis an, laß alles unbereut“ sind für Wolf wichtig und die werden auch mehrmals wiederholt.


Die Zeilen dienen als Selbsterkenntnis, aber auch als Erinnerung an die Erfahrungen anderer (aus der Vergangenheit). Somit wirkt das wiederholte Erinnern der Zeilen auch erlösend.

Man kann sagen, dass die eigenen und gelesenen Erfahrungen sich verdichten, ineinander überfließen. Auch die eigenen Erfahrungen der unterschiedlichen Zeiten werden innerhalb des Schreibens zusammengebracht, entweder mit großer Freude und mit dem Gefühl der Aufgehobenheit oder mit großer Anstrengung und wider der Angst. Wichtig ist, dass die poetische Sprache ein Bewegen durch Räume und Zeiten möglich macht und die Schreibenden zu einem größeren Kontext zugehörig macht. Schreiben wird zum Mittel der Erforschung von dieser Verbundenheit, von Selbst und der (eigenen) Vergangenheit. Sprache gibt den Erfahrungen Struktur und Form. Die in der Poesie oder im Prosa festgehaltenen Erfahrungen anderer (Schriftsteller) können wiederum Unterstützung beim Verstehen und Strukturieren eigener Erfahrungen bitten.



* Christa Wolf "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud". Suhrkamp, 2010. Zitiert mit dem Kürzel "SdE".
** Viivi Luik "Schattenspiel". Wallstein Verlag, 2018. Aus dem Estnischen übersetzt von Cornelius Hasselblatt.
*** Christa Wolf "Lesen und Schreiben". - Christa Wolf "Lesen und Schreiben. Neue Sammlung". Luchterhand, 1980. S. 9-48.